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Hans Witschi (*1954)
Bürgerort: Hindelbank (BE)
Schaffensort: New York
Im Alter von neun Monaten erkrankt Hans Witschi an Kinderlähmung. Er verbringt die folgenden 15 Jahre in der Rehabilitationsstation des Zürcher Kinderspitals in Affoltern am Albis. Die Atmosphäre dort wird von Witschi als zwiespältig beschrieben: «Im ganzen Haus weht ein Rudolf-Steiner-Wind. Freiluftdenken, Muse, Geistigkeit». Gleichzeitig herrscht ein strenges Regiment mit autoritärer Erziehung und einem rigiden Orthopädiekonzept. Die Körper werden jahrelang in Streckkorsette eingezwängt, um sie dem «Normalkörper» anzunähern. Während seiner Spitalzeit beginnt Witschi zeichnen. 1970 Antritt einer kaufmännischen Lehre, daneben ein Jahr lang Malunterricht bei Gustav Guldener. 1977 und 1980 Studien- und Werkbeiträge des Kantons Zürich; 1981, 1986 und 1987 Stipendium für Bildende Kunst der Stadt Zürich; 1991 und 1992 das Eidgenössische Kunststipendium. Seit Beginn der 1980er-Jahre zahlreiche Ausstellungen, unter anderem mehrmals in der Kunsthalle Palazzo, Liestal, in den Galerien Bernhard Schindler, Bern, Ursula Siegenthaler und Stephan Witschi, beide Zürich. Mit einem Atelierstipendium der Stadt Zürich kommt Witschi 1989 nach New er heute noch wohnt. Seit 2008 Fakultätsmitglied der Art Students League of New York.
Zu Beginn der 1970er-Jahre setzt Hans Witschis intensive künstlerische Arbeit in der Art des Abstrakten Expressionismus ein. Bald erhalten seine Bilder eine illusionistische räumliche Tiefe. Sie erinnern an interstellare, landschaftliche oder mikroskopische Situationen, an leuchtende «Welträume» mit Kometenschweifen, die auch Elektronenbahnen sein könnten. Um 1980 stellt er erstmals einzelne Körperteile dar: blutige Gliedstümpfe, verkrüppelte Füsse und Hände. Es folgt eine zögernde Annäherung an die menschliche Figur, die aber vorerst kaum je ins Bild kommt; einerseits entstehen bisonähnliche Urwesen, Hasen und Hunde, die für die oft geschundene Kreatur stehen. Leere Stühle und verlassene Zimmer deuten anderseits auf das Thema Mensch, gerade durch dessen Abwesenheit. Als Bild im Bild malt Witschi 1985 in einer Atelierdarstellung ein erstes – indirektes – Selbstporträt, dem zwischen 1986 und 1989 eine gewichtige Gruppe von circa zwanzig Selbstbildnissen folgt.
In diesen Jahren entwickelt Witschi seinen persönlichen Stil einer Gegenständlichkeit mit expressiven Zügen, die hauptsächlich durch ihre malerische Dichte besticht. Zu seinem wichtigsten Thema wird nun die menschliche Figur: verkrümmt, gebeugt, in Räumen eingeengt und zu Boden geworfen. Schonungslos sind diese Gestalten den Zwängen ihrer Existenz ausgesetzt. Der Figurentyp verbindet dabei Eigenschaften, die gemeinhin als gegensätzlich wahrgenommen werden. Das Geschlecht von Witschis Menschen bleibt undefiniert; sie erscheinen jung und greisenhaft zugleich, der Künstler mit dem Begriff des «Zeitkollaps» umschreibt. Die Räume, in die sie gestellt – oder vielmehr geworfen – werden, wirken auf sie begrenzend ein und zwingen sie zu Verrenkungen.
Gleichzeitig definieren sich die Räume durch sie. Witschis Bilder entschlüsseln sich nicht allein im Biografischen. Die Erlebnisse des Künstlers (das Verdehnen des Körpers zum Normkörper) lösen aber die Beschäftigung mit dem Thema der Deformation als Gegenentwurf zu einem normativen Körperideal aus.
Um 1990, mit dem Umzug nach New York, wird sein Pinselduktus fliessender; das frühere Durcharbeiten der Motive weicht mitunter abstrahierenden Tendenzen. In der Reihe der Maler-Bilder erschafft sich die Figur mit dem Pinsel in der Hand aus dem Geknäuel fliessender Linien selber.
Vermehrt wendet sich Witschi in den 1990er-Jahren dem Stillleben zu. Kugelförmige Blumen in einfachen Vasen vor einem abstrakten Hintergrund werfen die Frage nach dem Zusammenspiel Bildebenen auf. In den Serien der Sunflowers (2001) und der Malerschachteln (2011) spielt der Künstler ganze Reihen von Stilmodi durch. Die immer wiederkehrenden Wasserhähne stehen für Fluss des Lebens und der Zeit, wenn der Strahl mitunter auch erstarrt erscheint. In der Gruppe der Atelierbilder nimmt Witschi seit 2008 ein Thema auf, das bereits in den 1980er-Jahren grosse Bedeutung hatte. Nun verwirren sich aber die Perspektiven und das Verhältnis von Bild und Gemälden im Bild, über deren Grenzen hinweg die dargestellten Maler interagieren. Und es tauchen vom Künstler so genannten Mallöcher auf, bei denen unklar bleibt, ob es sich von oben gesehene Gläser handelt oder um Abläufe im Boden – oder gar um Durchbrüche, die die Oberfläche der Leinwand durchdringen und in eine Dimension hinter dem Bild führen.
Werke: Bern, Kunstsammlung Kanton Bern; Bern, Schweizerische Nationalbibliothek; Neuchâtel, Musée d’art et d’histoire; New York, Rockefeller University; New York, JP Morgan Chase Art Collection; Nottwil, Schweizer Paraplegiker-Stiftung; Pfäffikon/SZ, Charles Vögele Collection, Seedamm Kulturzentrum; Zürich, Kunstsammlung Kanton Zürich; Kunstsammlung der Stadt Zürich.
Textquelle: Ulrich Gerster: «Hans Witschi». In: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, 2017 (erstmals publiziert 1998). https://recherche.sik-isea.ch/sik:person-4001918/in/sikart
Lebenslauf: CV Hans_Witschi (PDF)
SIKART Lexikoneintrag: PDF
Webseite: www.handbook.org