Kunstschaffende
Nachlässe
Erbverträge
Serge Brignoni (1903-2002)
Bürgerort: Breno (TI)
Schaffensort: Bern / Paris
Sohn des Romeo Brignoni und der Cesira Muschietti. Die Familie lebte zuerst in San Simone di Vacallo bei Chiasso und ab 1907 in Bern. Ab 1919 studierte er an der dortigen Kunstgewerbeschule besuchte die Malschule von Victor Surbek und Marguerite Frey. Er beschäftigte sich intensiv mit Porträt, Akt und Anatomie und parallel dazu mit Farbtechnik und Skulpturen aus Ton und Gips. kehrte die Familie ins Tessin zurück, wo der Vater zum Vizedirektor der Post Bellinzona ernannt worden war. Der junge Künstler fuhr häufig nach Mailand. Während er von der Accademia di Brera enttäuscht war, interessierten ihn die Denkmäler, Museen und Kuriositäten der Stadt. Zur Vertiefung seiner künstlerischen Ausbildung reiste er nach Deutschland, wo er 1922/1923 die Hochschule bildende Künste in Berlin-Charlottenburg besuchte. In Berlin hatte er die Gelegenheit, Werke von Paul Cézanne, Wassily Kandinsky, deutsche Expressionisten und Paul Klee zu sehen. Er freundete
sich mit dem Basler Maler und Grafiker Eduard Gunzinger an und lernte von ihm, wie Farbe im Raum funktioniert. Beide wirkten sie als Statisten in einem Film von Fritz Lang mit. Da in Berlin eine grosse Sozialkrise drohte, zog Brignoni weiter nach Paris und studierte dort an der Académie de la Grande Chaumière, wo der herausragende Theoretiker André Lhote Malerei unterrichtete. lernte viele Künstler kennen, etwa Charles Bänninger, Alberto Giacometti, Karl Geiser, Varlin und Massimo Campigli, und besuchte den Louvre und andere Museen. 1923 wandte er sich dem Kubismus zu. Den Sommer des darauffolgenden Jahres verbrachte er mit dem befreundeten Maler Max von Mühlenen in der Provence. Wieder zurück in Paris, arbeitete er für Lhote. Auseinandersetzung ethnischer, aussereuropäischer Kunst und Beginn seiner Sammlung afrikanischer Skulpturen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Mailand im Winter 1925/1926 mietete er in Paris sein erstes eigenes Atelier. 1926 stellte er seine Werke in der Galerie Acher aus, zu deren regelmässigen Besuchern Tristan Tzara und André Breton zählten.
Die Galeristin Odette Luce kaufte ihm eine ganze Serie 1927 nahm er an einer Gruppenausstellung im Kunsthaus Zürich teil und gemeinsam mit Vertretern der «École de Paris» an der Biennale di Venezia. 1929 bis 1932 wechselten sich Arbeitsaufenthalte in Collioure mit der aktiven Beteiligung an Ausstellungen in Paris ab. Er präsentierte eine Einzelausstellung in der Galerie Jeanne Bucher und war 1931 mit Jean Arp, Sophie Taeuber-Arp Seligmann zu einer wichtigen Ausstellung in der Kunsthalle Basel eingeladen. Nachdem er 1931 die chilenische Malerin Graciela Aranis kennengelernt hatte, die er 1935 heiratete, liess Brignoni Meudon nieder. Teilnahme an der Ausstellung Abstraction-Création in Paris (1931). 1933/1934 längere Aufenthalte in Spanien. 1935 nahm er an der Exposition Internationale du Surréalisme Kopenhagen teil, die später in London, Paris, Amsterdam, New York, Santiago de Chile und Mexiko stattfand. Im darauffolgenden Jahr verbrachte er den Sommer in Cassis, die Sommermonate hingegen mit Walter Kurt Wiemken in der Bretagne. 1937 zeigte er eine Einzelausstellung in der Galerie von Pierre Loeb, der ihn mit Picasso bekannt machte. Im Jahr darauf stellte er in Maastricht zusammen mit Max Ernst, Alberto Giacometti und Stanley Hayter aus (Groupe de l’Atelier 17). Ab den 1930er Jahren sammelte Brignoni ethnische Kunst aus Südostasien, für die er zu einem anerkannten Experten wurde.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, blieb er zunächst in Paris. 1940 musste er Frankreich jedoch verlassen und siedelte nach Bern über. In der Folge gingen viele seiner Werke verloren. In den nächsten Jahren beteiligte er sich an Initiativen der Gruppe 33 und nahm an zahlreichen Ausstellungen in der Schweiz teil, etwa an Schweizer in Paris (Zürich, Kunsthaus, 1941; Bern, Kunsthalle, 1944 Einzelausstellung im Kunsthaus Zürich und 1946 gleichzeitig mit Otto Tschumi eine Retrospektive in der Kunsthalle Zürich. Unmittelbar nach dem Krieg nahm er die Kontakte mit Paris wieder zwischen den beiden Ländern hin- und hergerissen, entschied er sich letztlich für Bern. Einzelausstellung folgte auf Einzelausstellung, in der Schweiz wie im Ausland. 1954 bis 1956 unterrichtete der Kunstgewerbeschule Zürich angewandte Malerei. Immer wieder reiste er ins Ausland und ins Tessin. In Bern, Bellinzona und Lugano-Comano schuf er Wandmalereien. 1979 nahm er an der Ausstellung Neue Sachlichkeit und Surrealismus in der Schweiz 1915–1940 im Kunstmuseum Winterthur teil. 1985 schenkte Brignoni seine Kunstsammlung mit Werken aus Ozeanien, Indonesien Indien der Stadt Lugano, die vier Jahre später in der Villa Heleneum ein Museum für aussereuropäische Kulturen eröffnete (heute in der Villa Malpensata). Die letzten Lebensjahre verbrachte Künstler in Zollikofen bei Bern. Die wichtigsten Retrospektiven fanden im Kunstmuseum Bern (1997), im Museo Villa dei Cedri in Bellinzona (2003), im m.a.x. Museo in Chiasso und im Museo delle Culture in Lugano (2013/2014) statt.
In Brignonis genuin surrealistischer Kunst geht es thematisch bevorzugt um Prozesse der Natur, des menschlichen Körpers und des Wachstums. In einer ersten Phase, die zeitlich mit seinem Aufenthalt in Berlin und den ersten Pariser Jahren zusammenfiel, setzte er die Natur, verstanden als Komplex aller Lebenskräfte, in Beziehung zu den Anforderungen der Gesetze der Malerei. Thema Landschaft faszinierte ihn und ermöglichte es, mal ruhige und entspannte, mal dynamische und komplexe Stilmittel zu erproben. In dieser Phase lernte Brignoni sowohl von Paul Cézanne auch vom Repertoire der Pointillisten und bezog sich zudem auf postimpressionistisch geprägte Malweisen in der Nähe von Maurice Utrillo, André Derain oder Chaïm Soutine. Parallel dazu gelangte zur Überzeugung, dass Malerei darin besteht, plastische Elemente im Kontrast zur Oberfläche von Linien und Farben hervorzuheben.
In den Jahren 1926/1927 zeichneten sich allmählich Wendepunkte in seiner Bildsprache ab: Sowohl in Bezug auf die Licht/Farbe- und die Form/Raum-Lösungen als auch auf die Themenwahl tauchten neue Grössen auf, die mit dem Irrationalen, mit «primitiven» Kräften, mit der verborgenen Natur der Wirklichkeit in Zusammenhang standen. In der Gemäldeserie Affinità segrete durch fremd anmutende, ungewöhnliche Kombinationen Brignonis Suche nach neuen Erscheinungsformen und den gespensterhaften Seiten von Gegenständen zum Ausdruck. Ausgehend von Prämissen aus dem Bereich der metaphysischen Kunst suchte Brignoni nach dem geheimen Wesen der Dinge und Gegenstände und ihren verborgenen Bedeutungen und Konzepten. Seine Neigung zum Irrationalen war für den Künstler Grund, sich der surrealistischen Bewegung anzuschliessen, und zwar eher aus einer spirituellen, geistigen Verbundenheit heraus als aus der Notwendigkeit, Gruppe anzugehören. In seiner künstlerischen Reifung fand er Halt in den surrealistischen Theorien. Auch seine Vorliebe für aussereuropäische und insbesondere auch für kykladische Kunst Brignonis kulturelle Affinität zum Surrealismus. Die Bildhauerei nahm aber auch in seiner eigenen Produktion viel Raum ein, so schuf er in den späten 1920er Jahren aus Holz und Stein einige besten Werke. Dabei suchte er nach einer Synthese von schlichten, zurückhaltenden Körpern und elementaren, aber anregungsreichen emotionalen Inhalten.
Später wandte sich Brignoni einer immer komplexeren Bildkasuistik zu, die auf das Riesige oder Winzige abzielte. Metamorphosen, endlose kosmische Landschaften, mit pflanzlichen Elementen belebte Räume zeugen von einer poetischen Art und Weise der Annäherung an die Natur. Adern, Äste, Augen, Eingeweide, Meereswesen bevölkern Gemälde, in denen sich Zufall und logische Prinzipien gegenseitig durchdringen. Mit einer breiten Palette an eingesetzten Techniken – Bildhauerei, Collage, Drucktechniken, Malerei und Zeichnung – verlieh er «analogen Biologien» Gestalt. übernommenen Prinzipien gaben dem Künstler in der Folge neue Anregungen und eröffneten Möglichkeiten für immer wieder andere Entdeckungen des Bilds. Brignonis Stil oszilliert zwischen vom Pflanzlichen und der Natur geprägten und einem abstrakten, eher geometrischen Pol.
Werke in institutionellen Sammlungen (Auswahl): Aarau, Aargauer Kunsthaus; Basel, Basler Kunstverein; Kunstmuseum Bern; Lugano, Museo d’arte della Svizzera italiana, Collezione Cantone Ticino; Kunst Museum Winterthur; Zug, Zuger Kunstgesellschaft; Kunsthaus Zürich.
Textquelle: Manuela Kahn-Rossi: «Serge Brignoni». In: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, 2020 (erstmals publiziert 1998). Übersetzung: Barbara Sauser
https://recherche.sik-isea.ch/sik:person-4002149/in/sikart
SIKART Lexikoneintrag: PDF
Presse:
Eine Welt der Farben und Formen_Nachruf_Der Bund_8.1.2002
Zeitzeuge und Schöpfer eines Universums_Der kleine Bund_22.3.1997